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Die Sprache des Körpers und die Sprache der Novelle: Anatomie und Gattung der Gefühle in der romanischen Novellistik von Boccaccio bis zu Madame de Lafayette

Gegenstand des Projektes ist der ambivalente Status von bestimmten traditionell mit Affekten assoziierten Körperäußerungen und »Pathosformeln« (Tränen, Erröten und Erbleichen, Ohnmachten, Seufzen, Schwitzen, Haaresträuben, Fieberanfälle etc.) in der frühneuzeitlichen Novellistik zwischen physiologischem Determinismus und kultureller bzw. literarischer Codierung, zwischen Authentizität und Simulation, Natur und Kultur. Ausgangspunkt ist die Beobachtung, daß die romanischen Novellen ein spezifisches Repertoire an affektiv determinierten Körperäußerungen verarbeiten. Ob in Boccaccios Decameron, Marguerite de Navarres Heptaméron, Bandellos Novelle, Boaistuaus und Rossets Histoires tragiques, Cervantes’ Novelas ejemplares, Lope de Vegas Novelas a Marcia Leonarda und María de Zayas’ Novelas amorosas y ejemplares oder Madame de Lafayette Princesse de Clèves, immer wird man zahllose Hinweise auf unwillkürliche Körperäußerungen finden. Die Figuren erröten, erbleichen, erstarren, weinen, schwitzen, lachen, zittern, fiebern, verstummen, fallen in Ohnmacht, ihnen sträuben sich die Haare oder blutet die Nase. Betroffen sind Körper, die von Leidenschaften affiziert sind, denn die Äußerungen des Körpers werden zurückgebunden an eine Ökonomie der Affekte, die der frühneuzeitlichen Theorie der Seele zufolge nicht nur Störungen im physiologischen Haushalt verursacht, sondern als identisch mit diesen Veränderungen verstanden wird.

Der emotionswissenschaftliche Beitrag des Projektes zielt auf folgende über den historischen Rahmen hinaus relevante Themen: 1.) die Modellierung der Gefühle durch literarische Gattungen (verstanden als »Gefühlsskripte«): Von Boccaccio an ist die Novellistik dadurch gekenzeichnet, daß sie verschiedenen »einfache Formen« und Prosagattungen integriert und neu perspektiviert, immer auch metafiktional gelesen werden kann. Sie reflektiert damit auch die mit diesen Gattungen verbundenen »Weltmodelle« und Gefühlsskripte; 2.) die literarische Reflexion von Theorien über die somatischen Dimensionen der Affekte und die diskurshistorische Einbettung der Novellen in die verschiedenen Diskurse über Affekte (medizinische, moralphilosophische, theologische, moralistische etc.); 3.) die impliziten und expliziten poetologischen Reflexionen über die affektiven und physiologischen Wirkungen des Erzählens, Lesens und Sprechens: Vor allem in Novellenzyklen mit einer Rahmenerzählung wird über die therapeutische Wirkung des Novellenerzählens und -hörens nachgedacht. Methodisch soll gegenüber einer kulturwissenschaftlichen Forschung, welche die körperliche Dimension der Affekte allein als Produkt ästhetischer und kultureller Symbolprozesse betrachtet, gezeigt werden, wie in den literarischen Texten der Frühen Neuzeit die Grenze zwischen der Natur und der Kultur der Affekte Gegenstand der Inszenierung ist - es um die komplexen Wechselwirkungen zwischen ästhetisch-kulturellen und physiologischen Prozessen geht. Hier soll im Dialog mit anderen Projekten des Clusters ein Anschluß an aktuelle »biokulturelle« Modelle von Emotionen gesucht werden.

Leiterin des Projekts: Irene Albers

Fachgebiete: Romanische Philologie (italienische, spanische und französische Literatur), Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft