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Interdisziplinäres Zentrum Historische Anthropologie

Sprecher: Prof. Dr. Gunter Gebauer

Das Interdisziplinäre Zentrum Historische Anthropologie ist ein interdisziplinärer Forschungsverbund an der Freien Universität Berlin, dem vom Institut für Philosophie Prof. Dr. Gunter Gebauer und Prof. Dr. Hilge Landweer angehören. Das Zentrum gibt unter anderem das "Handbuch Historische Anthropologie" sowie die Zeitschrift "Paragrana" heraus.

Historische Anthropologie dient als Bezeichnung für vielfältige transdisziplinäre Bemühungen, Phänomene des Menschlichen nach dem Ende der Verbindlichkeit einer abstrakten anthropologischen Norm zu erforschen. Nicht länger ist es möglich, von dem Menschen zu sprechen. Diese Rede, die in der philosophischen Anthropologie Schellers, Plessners und Gehlens in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts den Diskurs in Deutschland bestimmte, führte zu einer unzulässigen Reduktion. Wenn von dem Menschen gesprochen wurde, dann wurde stillschweigend der singuläre europäische, männliche Mensch zur Norm gemacht. Mit der Konzentration auf die Erforschung der Bedingungen des Menschseins ging die Vernachlässigung der historischen und kulturellen Vielfalt menschlichen Lebens einher. Hierauf hat vor allem die Kulturanthropologie aufmerksam gemacht. In ihrem Rahmen lag der Akzent auf der gesellschaftlichen, sozialen und kulturellen Vielfalt menschlicher Existenz. Im Mittelpunkt standen Untersuchungen über sprach- und kulturhomogene Gesellschaften geringer demographischer Größe, für die Verwandtschaftsbeziehungen, Schriftlosigkeit und Subsistenzwirtschaft bestimmend sind. Angeregt von der Schule des Annales kam es darüber hinaus auch in der Geschichtswissenschaft zu einem wachsenden Interesse an anthropologischen Fragestellungen und Themen. Mentalitätsgeschichte bildete nun ein Zentrum des Interesses.

Auf dieser Basis zielt historische Anthropologie darauf, menschliche Lebens- und Darstellungsformen zu beschreiben, Gemeinsamkeiten und Differenzen herauszuarbeiten. Ähnlichkeiten und Unterschiede in Einstellungen und Deutungen, Imaginationen und Handlungen zu analysieren, ihre Vielfalt und Komplexität zu erforschen. Sie untersucht Fremdes und Vertrautes in bekannten und in fremden Kulturen in Vergangenheit und Gegenwart. Historische Anthropologie steht in der Spannung zwischen Geschichte und Humanwissenschaften. Sie erschöpft sich jedoch weder in einer Geschichte der Anthropologie als Disziplin noch im Beitrag der Geschichte als Disziplin zur Anthropologie. Sie versucht vielmehr die Geschichtlichkeit ihrer Perspektiven und Methoden und die Geschichtlichkeit ihres Gegenstandes aufeinander zu beziehen. Historische Anthropologie ist weder auf bestimmte kulturelle Räume noch auf einzelne Epochen beschränkt. In der Reflexion ihrer eigenen Geschichtlichkeit und kulturellen Bedingtheit vermag sie sowohl den Eurozentrismus der Humanwissenschaften als auch das lediglich antiquarische Interesse an Geschichte hinter sich zu lassen und Problemen der Gegenwart wie der Zukunft den Vorzug zu geben.