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Unbetonte Enjambements

Das Enjambement ist ein Zeilensprung, bei dem eine Satz- oder Sinneinheit über das Ende eines Verses hinaus auf den folgenden Vers übergreift. Es ist das Gegenteil der sogenannten 'line-sentence', bei der die Zeile als Verseinheit und der Satz als syntaktische Einheit übereinstimmen. Dagegen stellt das Enjambement eine Abweichung dar, die allerdings spätestens seit der Lyrik Pindars bekannt ist: Norbert von Hellingrath nannte dies die harte Fügung, welche er in Gedichten Pindars und Hölderlins, aber auch in den Oden von Horaz und Klopstock angelegt sah. Hart gefügte Gedichte zeichnen sich neben der Reimlosigkeit durch eine hohe Frequenz von Enjambements aus. 

Zudem ist zwischen weichen bzw. glatten und harten bzw. starken Enjambements zu unterscheiden: Die ersten setzen den Zeilensprung gemäß der syntagmatischen Einheiten der Sprache, also etwa zwischen Nominal- und Verbalphrase. Dabei imitieren glatte Enjambements die natürlichen Sprechpausen der gewöhnlichen, also nicht versifizierten Sprache. Ein hartes Enjambement dagegen trennt auch diese syntagmatischen Einheiten, setzt also den Zeilensprung beispielsweise zwischen Artikel und Substantiv oder transitivem Verb und Akkusativ. Trennt das Enjambement sogar einzelne Wörter, dann wird dies morphologisches Enjambement genannt. Im 18. Jahrhundert finden sich glatte Enjambements vor allem bei Klopstock, Lessing, Wieland und Voß, auch Goethe bevorzugt das glatte, die syntagmatischen Einheiten respektierende Enjambement, nur gelegentlich verwendete er auch das harte, z. B. in der Hymne Wandrers Sturmlied. Dagegen bevorzugte Hölderlin in seinen Hymnen eher das starke Enjambement.

Im 20. Jahrhundert sind Enjambements etwa für die Lyrik Rilkes kennzeichnend, in Rilkes 'Römische Fontäne' imitieren die Enjambements von Vers zu Vers und von Strophe zu Strophe gar das Fließen des Wassers von einer Schale zur nächsten. Auch Paul Celan hat, von Hölderlin und Rilke inspiriert, harte Enjambements bevorzugt, bisweilen auch morphologische Enjambements, so etwa im Gedicht Die Silbe Schmerz. In Jürgen Beckers Gedicht Winterbild 45 illustriert das Enjambement auf der verbalen Ebene zudem die optischen Brüche, die durch die Technik des snap-shots entstehen. Auch Ulrike Draesner setzt in ihrer Lyrik an die Stelle von Syntax, Interpunktion und Reim die harten Enjambements, die allerdings durch elliptische Formen noch verstärkt sind. Etwas glatter erscheint dagegen das Enjambement in der Dichtung von Nico Bleutge oder Jan Wagner.