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Langzeiler

Die Form des Langzeilers geht zurück auf Walt Whitmans Langgedicht Song of Myself aus der Gedichtsammlung Leaves of Gras von 1855. Sie hat ihre Vorlage in Whitmans Adaption des biblischen Verses der King-James Bibel und deren auf Enjambements verzichtenden "end-stopped-lines", die aus den größeren Einheiten der Grammatik - den "periodic sentences" - bestehen. Nach Donald Wesling ist der Langzeiler die Grundlage für den freien Verses im Englischen. Ein frühes Beispiel ist etwa Williams Carlos Williams' Gedicht The Wanderer. A Rococo Study von 1913, in dem Williams in Anlehnung an Whitman ebenfalls mit der Form des längeren, zwar rhythmischen, aber reimlosen Textes experimentierte.

Eine ähnliche Form entwickelte sich zuvor schon im französischen verset, der etwa in den 1911 erschienenen Éloges von Saint-John Perse angelegt ist. Auch bei Perse geht der freirhythmische Hymnentonfall auf Elemente der kirchlich-liturgischen Rhetorik und der psalmodierenden Reihung zurück, über die Perse wie Whitman zum unregelmäßigen, langzeiligen Vers gelangte. Später verwendete Perse auch in seinem 1924 veröffentlichten lyrischen Epos Anabase den frei gegliederten, hymnischen Rhythmus, der an Walt Whitmans freie Langzeilen erinnert.

Nach 1945 ist der Langzeiler in der Beatlyrik wieder aktiviert worden, insbesondere in Alan Ginsbergs Howl von 1955 ist der Einfluss von William Carlos Williams, der biblischen Psalmen und Walt Whitmans unverkennbar. Und auch in Deutschland führte der Einfluss von Whitman, Williams und Ginsberg zum "langen Gedicht", das Walter Höllerer 1965 mit Verweis auf die Charles Olsons "projective verse" als offenste, die Diversität der Welt in sich aufnehmende lyrische Form im Rahmen des "Literarischen Colloquiums Berlin" den jungen Autoren wie etwa Jürgen Becker, Nicolas Born oder Hans Magnus Enzensberger nahegelegt hatte. Es schaffe "sich die Perspektive, die Welt freizügiger zu sehen, [und] opponiert gegen vorhandene Festgelegtheit". Im Unterschied zu der Statik und Formenstrenge kurzer Gedichte sei das Langgedicht besser geeignet, die Dynamik der Realität und deren einander ablösenden Momente nachzubilden, entsprechend einer im Medium des Films verwendeten Schnitttechnik. Später finden sich Langzeiler in den Historiengedichten Durs Grünbeins, etwa im Zyklus: Asche zum Frühstück aus dem Gedichtband Nach den Satiren; ein weiteres Beispiel ist Gerhard Falkners 2005 entstandenes Langgedicht Gegensprechstadt – ground zero: eine Auseinandersetzung mit den terroristischen Attacken vom 11. September 2001 in New York, Nora Gomringers Gedichten aus Sag doch mal was zur Nacht von 2006, oder die prosahaften Langzeilen aus Monika Rinks Honigprotokollen von 2012. Aktuelle Verwendung des Longliners findet sich in den USA vor allem in den späten Gedichten von C. K. Williams, etwa in The Neighbour:

Her five horrid, deformed little dogs who incessantly yap on the roof under my window.

Her cats, God knows how many, who must piss on her rugs -- her landing's a sickening reek.

Her shadow once, fumbling the chain on her door, then the door slamming fearfully shut,

only the barking and the music -- jazz -- filtering as it does, day and night into the hall.

Literatur:

Eilert, Heide: "Komet der neuen Zeit": zur Rezeption Walt Whitmans in der dt. Lit. des 20. Jh. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur. - Berlin 17 1992, H.2, S. 95/109.