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Gestischer Rhythmus (= Betonte Enjambements)

Der "Gestische Rhythmus" geht zurück auf die Lyrik und Poetik Bertolt Brechts und wird in dessen Essay „Über reimlose Lyrik und mit unregelmäßigen Rhythmen“ erläutert. Als Beispiel für reimlose Lyrik mit unregelmäßigen Rhythmen nennt Brecht etwa die beiden Endstrophen seines Gedichts Die Jugend und das Dritte Reich aus den Deutschen Satiren:

Ja wenn die Kinder Kinder blieben
Könnte man ihnen immer Märchen erzählen.
Da sie aber älter werden
kann man es nicht.

Brecht bemerkt dazu: „Die fehlenden Versfüße müssen beim Sprechen durch Verlängerung des vorhergehenden Fußes oder durch Pausen berücksichtigt werden.“ Brecht nannte dies die „gestische Rhythmisierung“, die er im Rahmen seiner Theaterarbeit weiterentwickelte und von dort aus erneut auf seine Lyrik übertrug. Brecht begriff dabei „die Wahrnehmung gesellschaftlicher Dissonanzen als eine Voraussetzung für die neue gestische Rhythmisierung“, und entwickelte so sowohl in seiner Lyrik wie auch in seiner Theaterarbeit einen „Rhythmus", der sich vom "üblichen Klappern" des Jambus oder Trochäus unterscheide:

"Statt zu schreiben:

'Seit sie da Trommeln rührten überm Sumpf

Und um mich Roß und Katapult versank,

Ist mir verrückt mein Kopf. Ob alle schon

Ertrunken sind und aus, und nur mehr Lärm hängt

Leer und verspätet zwischen Erd und Himmel? Ich

Sollt nicht so laufen.'

schrieb ich:

'Seit diese Trommeln waren, der Sumpf, ersäufend

Katapult und Pferde, ist wohl verrückt

Meiner Mutter Sohn Kopf. Keuch nicht! Ob alle

Schon ertrunken sind und aus und nur mehr Lärm ist

Hängend noch zwischen Erd und Himmel? Ich will

auch nicht

Mehr rennen.'

Das ergab den stockenden Atem des Rennenden, und es enthüllten sich in diesen Synkopen besser die widersprüchlichen Gefühle des Sprechers.“

Realisiert wird dieser stockende Gegenrhythmus vor allem durch die Verwendung des Enjambements, das insbesondere bei Lyrikern der ehemaligen DDR im Vortrag durch Pausen betont wird: Eine auf den Einfluss Brechts zurückgehende Besonderheit, die sich etwa in den Gedichten Heiner Müllers findet: Die Gedichte MÜLLER IM HESSISCHEN HOF und BESUCH BEIM ÄLTEREN STAATSMANN verwenden Langzeilen in einer durchgehenden Enjambementtechnik, die im gestischen Rhythmus Brechts phrasiert wird. Zwei weitere DDR-Lyriker haben diese Brechtsche Intonationslehre wohl über ihre Theaterarbeit kennengelernt und dann intensiv adaptiert: Karl Mickel, der mit Volker Braun, Heinz Czechowski, Bernd Jentzsch, Rainer Kirsch, Sarah Kirsch und Richard Leising zur so genannten Sächsischen Dichterschule zählte, und Kerstin Hensel, die heute als Nachfolgerin von Mickel an der Berliner Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch unterichtet. Ein wunderbares Beispiel für die US-amerikanische Verweendung des gestischen Rhythmus entdeckte jüngst Chris Mustazza in seiner Analyse der Gedichte von Robert Creeley.

Literatur:

Ritter, Hans Martin: Das Gestische Prinzip bei Bertolt Brecht, Köln 1986.

MacLean, Hector: Gestus in performance: Brecht and Heiner Müller, in: New essays on Brecht, Toronto 2001, S: 80-99.