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Feng Zhi

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Feng Zhi

(1939)

Über den Text

 

 

 

Wie man Nietzsche lesen sollte (ein Brief)

 

XX,

Wegen deines Medizinstudiums lernst du bereits seit ein paar Jahren die deutsche Sprache. Du bist noch jung, die deutschen Anatomie-Lehrbücher können deine innere Entwicklung nicht befriedigen, deswegen hast du angefangen, Bücher über deutsche Philosophie und Literatur zu lesen. Ich habe dir schon geraten, weniger Heine zu lesen. Jeder, solange er mindestens ein Jahr Deutsch gelernt hat, kann die Gedichte von Heine verstehen. Aber außer einigen reinen Liebesgedichten sind die meisten in einem schmierigen Ton geschrieben. Die jungen Leser tauchen in den schlichten und simplen Reim ein und versuchen dabei nicht, die tiefere Emotion herauszutragen, folglich ist unser Weg zu Goethe und Hölderlin (die zwei ehrwürdigsten deutschen Dichter) dadurch versperrt. Die Prosa von Schopenhauer ist meistens fließend und gleichzeitig leicht zu verstehen. Es ist ein hoher Genuss, sie zu lesen. Du kannst sie lesen, sogar oft wiederholen, doch halte sie nicht für deutsche Philosophie, sondern einfach für prachtvolle Prosa. Die Erklärung hierfür ist lang, daher lass uns zu einem anderen Zeitpunkt darüber reden. Du hast mir in dem letzten Brief erzählt, dass du jetzt mit unendlicher Leidenschaft Nietzsche liest und keine Sekunde ohne ihn leben kannst. Sobald ich dies las, freute ich mich einerseits für dich, andererseits war ich um dich besorgt: ich bin froh, dass du Heine und Schopenhauer zur Seite gestellt hast und dich jetzt diesem größten deutschen Denker seit hunderten Jahren näher fühlst. Sobald wir ein Werk von ihm durchblättern, egal welches, sind wir von einem neuem Impuls, einer neuen Erregung und einem neuem Schauer erfasst. Diese Gefühle haben wir in unserem Leben vorher nicht oft erlebt. Was mich besorgt macht, ist die Furcht, dass du Nietzsche als Messias oder Propheten betrachten könntest und alles, was er gesagt hat, zur Wurzel all deiner Gedanken wird, die du in deinem Tagebuch notierst. Falls dies passiert – wenn du dessen Worten blind folgst – wirst du für immer verloren sein und nie einen Ausgang finden.

In den letzten zehn Jahren in Deutschland sind Nietzsches Worte so häufig missbraucht worden wie die keines anderen Philosophen. Sie treten in verschiedenen Büchern und Magazinen von verschiedenen Parteien auf, als Vorwort oder als Zitat, sowohl in den Propagandabroschüren der Sozialisten als auch in den Reden von Faschisten, auch in den Artikeln von Atheisten oder Katholiken sind Nietzsches Worte überall zu finden. Sein Sammelwerk ist eine Fundgrube für Maximen geworden, die von allen Parteien geraubt worden sind. Nietzsche hat selbst einmal gesagt: „Die schlechtesten Leser sind die, welche wie plündernde Soldaten verfahren: Sie nehmen sich einiges, was sie brauchen können, heraus, beschmutzen und verwirren das übrige und lästern auf das Ganze.“ Unglücklicherweise wurde sein eigenes Lebenswerk so häufig wie das keines anderen von solchen „Soldaten“ überfallen. Ein Grund dafür ist, dass sein Werk von Diskrepanzen erfüllt ist. Deswegen ist einiges „herausgenommen“, einiges „beschmutzt“ worden, daher wird auf das Ganze „gelästert“. Wenn du Nietzsche zitieren willst, muss dir bewusst sein, dass irgendwo in dem Buch ein Satz liegen kann, den dein Gegner als Zitat benutzen wird, um ihn gegen dich zu verwenden. - Deshalb: Wenn wir einen Absatz lesen, egal wie sehr die Macht der Wörter uns emotional erschüttert, dürfen wir das auf keinen Fall sofort als bare Münze nehmen. Am besten sammelst du alles, was er über ein Thema geschrieben hat und vergleichst diese unterschiedlichen Aussagen, versuchst, die unterschiedlichen Gründe für diese Ansichten nachzuvollziehen und dabei das Ganze nicht aus dem Blick zu verlieren. Nietzsche hatte eine streng philologische Bildung, er sagte lobend über die Philologie: „Sie lehrt gut lesen, das heisst langsam, tief, rück- und vorsichtig, mit Hintergedanken, mit offen gelassenen Thüren, mit zarten Fingern und Augen lesen...“. Auf diese Weise sollen wir Nietzsche lesen, nicht sein Werk willkürlich und wahllos zerbrechen.

Außerdem möchte Nietzsche selbst auch nicht, dass seine Leser zu seinen Gläubigern werden. Wer sich für einen Prophet hält, verlangt von anderen, an ihn zu glauben. Wenn wir Nietzsche für einen Propheten halten möchten, sollen wir nur einen Satz von ihm glauben: Kenne deinen eigenen Weg. Er hat gesagt: „Du sollst dir selbst treu folge – dann bist du mir treu gefolgt.“„Das ist mein Weg. Welches ist dein Weg?“ Er hat uns nicht nur beigebracht, einen eigenen Weg zu gehen, sondern uns auch geraten, beim Lesen seiner Werke Distanz zu wahren. „Ich möchte in euch den tiefsten Argwohn gegen mich erregen.“ „Die Aufgabe eines Lehrers ist, den Schülern beizubringen, ihre Lehrer anzuzweifeln.“ Nietzsche glaubt, alle Meinungen, alle Wahrheit kann man nur durch sich selbst erleben, mit eigener Hand ergreifen. Es ist auf keinen Fall wie ein Ding, das man untereinander austauschen, oder eine Technik, die man sich gegenseitig beibringen kann. Nietzsche verlangt keine Gläubiger; er hat Angst, dass ihn eines Tages jemand als Messias bezeichnet. Du wirst bestimmt fragen, warum predigt dann Zarathustra wie ein Verkünder und Heiland? Und ist er nicht bekleidet mit dem Gewand eines Messias aufgetreten? – Wir müssen unterscheiden: Zarathustra ist nicht Nietzsche, Nietzsche ist nur sein Autor.

Wenn man Nietzsche liest, sind die obengenannten die zwei am häufigsten gemachten Fehler. Wir können seine Bücher nicht verstehen ohne sein Leben zu berücksichtigen. Wie sieht aber sein Leben aus? Ohne Familie, ohne Beruf, ohne Zugehörigkeit hat er nur auf den Bergen in der Schweiz, an den Küsten Italiens gelebt, er zog von einem Ort zum anderen. Er ist ein stetig Wandernder, ein außenseitiger Beobachter der hastenden Welt: kein menschliches Problem, das sich nicht in seinen leuchtenden Augen widerspiegelte. Er war oft krank, was seine Gedanken tiefgehend machte. Er hat ständig kritisiert und analysiert, und war zu dem Ergebnis gekommen, dass das Christentum, das Europa hunderte Jahre beherrschte, nur Produkt der Sklavenmentalität sei. Außerdem meinte er, dass das philosophische System vom Mittelalter bis in die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts nur eine von verschiedenen Philosophen geschaffene Ausflucht aus der Wirklichkeit sei. (Kierkegaard, ein dänischer Philosoph, der Nietzsche ein halbes Jahrhundert voranging und dessen Überlegungen Nietzsches sehr ähnlich waren, schrieb einmal über das philosophische System: Der Philosoph, der sein eigenes philosophisches System baut, ist wie ein Bauarbeiter, der zwar einen schönen Palast gebaut hat, selbst aber nur in einer schlichten Hütte daneben wohnen kann.) Die Welt versteckt sich vor dem systematischen Philosophen unter der Maske der Moral, der Religion und aller Arten von Tradition, doch die Maske ist nur eine erfundene Leere. Kein Wunder, dass er nur Wüste gesehen hat, als er allein auf der Spitze des Berges stand und hinunter schaute. Deshalb hat er in seiner Biographie immer gesagt, dass er ein Sohn der Zeit der Dekadenz sei, doch der Sohn möchte neu geboren werden, wie der Kranke sich die Gesundheit wünscht. Er wurde aus seinem eigenen Zustand des Krankseins dessen gewahr, dass die Gesundheit nur ein Traum in der Ferne sei: seine Begriffe wie „Übermensch“ und „Wille zur Macht“ sind funkelnde Erwartungen in diesem Traum.

Wo und wie beginnt seine Kritik und Analyse über das menschliche Leben? In der Zeit, als Nietzsche viele moralische Konzepte prüfend genau bedachte und sie anschließend verneinte, ist für ihn eine Tugend unerschütterlich: die Redlichkeit. Seiner Meinung nach brauchen wir nur eine Reinheit, egal ob man Philosoph oder Clown auf der Schaubühne ist. Das Streben nach der Reinheit ist die von Nietzsche genannte Redlichkeit. Nur jemand, der diese Redlichkeit im Herzen hat, kann seinen Blick erweitern, um die vielschichtige Welt und die Myriaden Dinge in ihr unverfälscht zu sehen, nur so fällt auch die vielschichtige Welt ungetrübt in sein Auge. Er hat gesagt: „Nicht wo euer Auge aufhört zu erkennen, sondern schon dort wo eure Redlichkeit aufhört, da sieht das Auge nichts mehr.“ Aber das Streben nach der Reinheit wird im realen Leben nicht nur durch die Heuchelei verdorben, sondern auch durch „Güte“ verschleiert. Wir sollten jenseits von „Gut“ und „Böse“ stehen, die Fähigkeit in uns erwecken, die Bedeutung des Wortes „Redlichkeit“ zu durchdringen. Nur so können wir uns Nietzsche langsam nähern.

Außerdem müssen wir den übertriebenen Ehrgeiz vermeiden. Wir wissen alle, dass Nietzsche den Geist von Dionysos entdeckt und Loblieder auf den Tanz gesungen hat. Tanz ist bei ihm nur eine Metapher und symbolisiert unser fließendes Leben. Ruhende und starre Stellen sind Leere und Verdorbenheit. Die Menschheit soll allzeit mühsam versuchen, aus der Leere und Verdorbenheit herauszuspringen. Sein Buch ist so fließend wie das Leben selbst: wenn wir ihn lesen, kommt in uns das Gefühl auf, sich zwischen Frühling und Sommer zu befinden. Der Wechsel von Regen und Wind, das Steigen und Sinken der Temperaturen, all dies gibt uns andauernd neue Gefühle; andererseits sind seine Bücher wie ein unablässig strömender Fluss, auf dessen Wellen unser Spiegelbild und die Reflektion unserer Umgebung mitschwimmen...

Wir sollen ihm folgen, seine Gedanken nachvollziehen, seine Bewegungen verstehen, aber ihn niemals nachahmen.

Metaphorisch gesprochen ist Nietzsche eine wunderliche Landschaft, ein Gewitter bei Nacht, er erhellt unser Denken und alarmiert, warnt, weckt uns, aber er ist kein Weg, über den wir zu einem heiligen Ort gelangen können.

Hiermit möchte ich diesen Brief abschließen. Wovon ich dir darin erzählt habe, sind alle Umwege, die ich beim Nietzsche Lesen gemacht habe. Er soll dir als Wegweiser dienen.

 

Übersetzung Zhang Shuo



Über den Text: Veröffentlicht in: Hao Yuanbao (Hg.): Friedrich Nietzsche in China, Shanghai 2001, S. 289-292. Feng Zhi hat diesen Brief im Jahr 1939 geschrieben. Er hat Nietzsche erstmals im Jahr 1924 als Germanistik-Student an der Beijing-Universität gelesen. Seit 1930 studierte er an der Heidelberg-Universität und hat dort die Vorlesungen über Nietzsche von Karl Jaspers besucht. Im Jahr 1937 hat Feng Zhi elf Gedichte von Nietzsche übersetzt und veröffentlicht. Zwischen 1939 und 1945 habilitierte er sich als Professor der Germanistik an der National Southwestern Associated Universität (China). Dieser Brief an einen jungen Studenten erschien zum ersten Mal 1939 in „Debatte Heute“ (《今日评论》), Bd. I, Nr. 7.


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