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Forschungsprojekt: "Storytelling im digitalen Zeitalter"


Ausgangssituation

Die Postmoderne hat in den vergangenen Jahrzehnten postuliert, dass die Zeit der großen Erzählungen endgültig vorbei sei. Der unaufhaltsame Aufstieg der digitalen Medien mit ihren Hyperlinks und Text-/Bild-Versatzstücken schien die These einer irreversiblen Fragmentierungvon Welt und Erzählen zu stützen. Doch mit der „Sozialisierung“ von digitalen Medien zu Beginn des 21. Jahrhunderts erfährt die erzählte Geschichte eine ganz neue subjektiv getönte Relevanz, wie der Social Media Academic Summit 2012 in Stanford/Palo Alto bestätigte: „Storytelling“ bzw. Narration ist das zentrale Thema, ja Paradigma in der digitalen Netzwelt. Die gesamte „Creato rEconomy“ ist aufs „Geschichten erzählen“ in allen denkbaren text-, bildbasierten sowiemultimedialen Formaten fokussiert. Die trans- und multimediale Kommunikation in den sozialen Netzwerken basiert auf kommerziellen und persönlich-individualisierten Gebrauchtstexten, die das gesamte Spektrum von der Einzelbiographie über „Listicals“ (Synthese von „List“ und „Article“) bis zu Soap-ähnlichen Werbegeschichten umfassen.

Medientechnologisch kann heute und in Zukunft jedes Individuum, jede Non-Profit-Organisation, jedes Unternehmen sein eigener (Medien-)Produzent sein, d.h. seine eigenen Geschichten in Bild und Text, in infographischer Konfiguration, in Photos, Videos, Textsorten aller Art permanent selbst erzählen und über die offenen sozialen Netzwerke kommunizieren bzw. vertreiben. Jeder und alle sind potentielle „Curators“ und „Editors“ ihres Lebens, ihres Projekts, ihrer Firma oder Institution und damit Produzent von Thesen, Botschaften, Identitäten und Images. Schlüsselbegriffe wie „Storytelling“, „Curating“ oder „Editing“ wiederum verraten genuin literatur-,film- und kunstwissenschaftliche Bezüge, ohne dass diese Tatsache in den von Praktikerndominierten Social-Media-Diskussionen vielfach reflektiert wird. Dazu passt auch, dass unter„Storytelling“ relativ undifferenziert alle möglichen narrativen Varianten von „Lightweight Stories“ (Facebook) über einfaches chronikalisches Erzählen, Foto-Romane, aggregierte Bildcollagen, interaktive Werbeclips („Social Advertising“) bis zu Soap-ähnlichen Kurzgeschichten und „Corporate-Human-Touch-Stories“ (interne Firmengeschichten) subsumiert werden. Der „narrative approach“ hat also – ausgehend von künstlerisch-kulturellen Ansätzen und Manifestationen – alle Social-Media-Bereiche erfasst. „Storytelling“ wird so zur Domäne von „Professionellen“ – also Journalisten, Textern, Drehbuchautoren – wie von Laien-„Creators“, d.h. Kunden, Einzelpersonen, Gruppen (Communities), die allesamt aggregieren, montieren, produzieren und diskutieren. Dieser schier unerschöpfliche Erzählkosmos sozialer Medienplattformen verlangt geradezu nach „Content“, der über das mobile Internet (Smartphones, iPad) noch nie so einfach zu distribuieren war. 

Forschungsschwerpunkte

Das Forschungsprojekt konzentriert sich auf die Analyse und mögliche Typologisierung von„Gebrauchstexten“, also Werbe-, werbeähnliche Texte, Firmendarstellungen, „Listicles“(journalistische Artikel mit integrierten werblichen Listen, Präsentationen) sowie vor allem Lebenschroniken („Life Blogs“). Ausgeblendet bleibt der gesamte Bereich trans- und multimedialer Poesie. Die zentralen Fragestellungen orientieren sich dabei an tradierten künstlerisch-kulturellen „Techniken“: Sprachanalyse, Dramaturgie, Montage, Ikonographie, Themenfelder / AgendaSetting, Genrebildung, aber auch Faktoren wie „subjektive Relevanz“. Narrationen im digitalen Zeitalter sollen in ihren wesentlichen formal-ästhetischen, medialen und thematischen Manifestationen („Show and tell“-Ästhetik, Authentizitätsgebot, Emotionalisierung, Nähe u.ä.) und gattungstypologischen Ausformungen („Corporate stories“, „Socialstories“, „Social learning stories“ usw.) dargestellt, analysiert und systematisiert werden.

Den ersten Untersuchungsschwerpunkt bildet die Analyse chronikalisch-individualisierter Erzählformen, wie in der „Timeline“ auf Facebook, die die Grundlage von netzbasierten Identitätskonstruktionen darstellen (erzähltes Leben als Life Blog, d.h. regelmäßige Darstellung des Erlebten oder Erdachten). Den zweiten  Schwerpunkt stellen  – gleichsam kontrapunktisch – die fiktiven Erzählmuster der Daily Soaps dar, die als (alt-)mediale Erzählformen in der Tradition der Kolportageliteratur stehen und als TV-Formate vielfältig in den sozialen Medien stofflich wie narrativ adaptiert werden. Das gilt gleichermaßen auch für den dritten Schwerpunkt: Videospiele. Diese haben insbesondere in den neuesten interaktiven Formaten entscheidend zur „Wiederentdeckung“ des formatierten wie individualisierten Geschichtenerzählens in (neu-)medialen Zusammen-hängen beigetragen (Aventiure-Modell). Sich selbst als Teil einer vorgegebenen, aber ndividuell variabel steuerbaren semi-filmischen Geschichte zu begreifen, erfüllt die Erwartungen an Partizipation und Interaktion. Journalistisch geprägtes Geschichtenerzählen (z.B. Reportage, Bericht, Glosse) vervollständigt das erzähltechnisch-narratologische Ausgangsszenario. Ergänzt und begleitet wird dies von Untersuchungen zu Formen digitaler Autorschaft vor dem Hintergrund kulturkritischer Positionen seit den sechziger Jahren (populärkulturelle Motive, Joseph Beuys‘ „Jeder ist ein Künstler“, Kultur der Partizipation und Interaktion u.a.) sowie zur Reflexion von medien-technologischen und rezeptiven Bedingungen, sodass die Verknüpfung von künstlerisch-kulturellen Techniken, kollektivem Produzentenbewusstseinund technologischen Innovationen die Beschreibungs- und Erklärungsgrundlage von  non-fiktionalen Narrationen im digitalen Zeitalter liefern werden.

Methodische Vorgehensweise

Neben der literaturwissenschaftlichen Erzählforschung, theater- und kunstwissenschaftlichen Ansätzen (Dramaturgie, Ikonographie) werden qualitative Methoden der Sozialwissenschaften zum Einsatz kommen (Fokusgruppengespräche). Darüber hinaus werden die Ergebnisse umfangreicher empirischer Studien des Forschungsprojekts „Jugendkulturen als Medienkulturen“ einfließen.

 

Forschungsteam des Instituts für Kultur- und Medienmanagement (IKM), Freie Universität Berlin

Univ.-Prof. Dr. Klaus Siebenhaar

Prof. Lothar Spree

Dr. Steffen Damm, IKM

Dipl.-Vw., Dipl.-Kulturmanager, Achim Müller

Studentische Arbeitsgruppe „Digitale Öffentlichkeiten“

 

Schwerpunkte der Aktivitäten u.a.

  • Forschung. Grundlagenforschung und angewandte Forschung, z.B. Forschungsprojekte „Jugendkulturen als Medienkulturen“, „Digitale Öffentlichkeiten“
  • Förderung. Nachwuchsförderung, z.B. generationenübergreifende Medienkompetenzentwicklung (Empowerment-Kolleg)
  • Forum. Dialog und Diskussion zwischen Medienwissenschaft und Medienpraxis, z.B. Forum „Digitale Öffentlichkeiten“