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Und plötzlich überkommt mich ein Schauer ... und ich sage „Papa“!

Ich werde in einer gestalttherapeutischen Familienaufstellung in ein System gewählt. In diesem Familiensystem übernehme ich die Rolle der älteren Schwester der Protagonistin, die kurz nach der Geburt verstarb. Mehr Informationen habe ich zu der Person im Vorfeld nicht.

Zu Beginn, als alle Rollen von der Protagonistin verteilt worden waren und alle Stellvertreter*innen im Kreis stehen, bereit, um aufgestellt zu werden, spüre ich Neugierde: Was wird jetzt wohl passieren? Die Protagonistin tritt hinter jede*n und führt ihn oder sie zu einem Platz. An dem Ort angekommen bestimmt sie die Richtung der Standposition.

„Meine“ Eltern, d.h. die Eltern der Protagonistin, die in der Rolle auch „meine“ sein werden, werden aufgestellt, ebenso wie Großeltern und Geschwister. Bevor die Protagonistin mich aufstellt, denke ich in dem Moment, als sie die Mutter an mir vorbei führt, dass ich bestimmt zur Mutter gestellt werde. Es ist ein Gefühl, das mich dort hin zieht. Überrascht bin ich, dass die Mutter zwar steht, ich aber an eine andere Stelle komme. Ich werde am Rücken des Vaters platziert. Meine rechte Seite berührt den Rücken des Vaters, wir stehen im rechten Winkel zueinander. Die Protagonistin sagt daraufhin zu mir: „Du bist meine Schwester Yasmin“ (Name geändert). Meine Mutter steht mir in einem Abstand von zwei Metern gegenüber. Als erstes fällt mir auf, dass ich fröstele, die Härchen auf meinen Armen stellen sich auf und mir laufen Gänsehautschauer über den ganzen Körper. Ich sehe, wie meine Mutter mir sehr steif gegenüber steht; sie wirkt auf mich wie ein Brett. Sie schaut mich nicht an, oder zumindest fühle ich mich nicht angeschaut, der Blick sieht fern aus. Ihre Hände sind geballt. Genau kann ich gar nicht erzählen, was alles passiert. Die Personen sind wie verschwommen um mich. Ich spüre im weiteren Verlauf, dass sich bei meiner rechten Hand die Finger verkrampfen wie bei einer Spastik. Es ist ein komisches Gefühl, das ich so nicht kenne. Mit meiner anderen Hand betaste ich meine Finger. Sie fühlen sich etwas merkwürdig an, fast wachsig. Irgendwann löst sich die Verkrampfung wieder.

Während sich irgendwas im System verändert, bewegt sich der Mann hinter mir – mein Vater. Er verändert seine Position, indem er sich mir zuwendet. Er legt seinen linken Arm um meine Schulter. Wir stehen nun nicht mehr Seite an Rücken, sondern Seite an Seite. Ich habe den Impuls ihn anzuschauen, mein Blick wandert immer wieder zu ihm. Ich kann den Blick kaum von ihm wenden: seine braunen Augen von der Seite, die sich mir auch immer wieder zuwenden, die Äderchen an der Schläfe, ein kleiner Leberfleck an der Augenbraue wecken mein Interesse. Auch mein Körper folgt der Blickrichtung und ich wende mich ihm leicht zu. Ich sehe sein Gesicht von der Seite. Es ist wie wenn ich staunend den Mund öffnen muss, und auch er, der größer ist als ich, schaut mich immer mal wieder an. Es ist, wie wenn er mich entdeckt, gerade erst bemerkt, mich dann aber offen anschaut, vielleicht auch ein bisschen unbeholfen? Was hinter mir passiert oder um mich herum, bekomme ich kaum mit. Ich, als Lilian, aber vielleicht ja auch als Yasmin, denke mir: „Es wäre schon interessant zu wissen, was da hinter mir passiert.“ Aber ich kann den Blick nicht wenden. Ich schaue in das Gesicht des Mannes neben mir und habe den Impuls, das Gesicht zu berühren. Meine Hand streicht ihm über die Backe, es ist eher wie ein Tatschen – und das Wort „Papa“ kommt in mein Bewusstsein, immer wieder „Papa“, „Papa“. Ich sage es leise.

Er schaut mich an. Ich spüre seine Wärme. Das Geschehen geht irgendwie weiter – wie, das bekomme ich in meiner Vertiefung nicht mit.

An einer Stelle kommt die Leitung zu mir, berührt mich leicht am Arm und erklärt mir, dass ich gestorben sei, jetzt gehen müsse und mich setzen kann. Ich spüre einen Widerstand in mir und will mich gar nicht lösen, tue es dann aber doch widerwillig. Auf meinem Platz sitzend werfe ich einen prüfenden Blick zu dem Mann, der meinen Vater repräsentiert(e). Irgendwie will ich mich vergewissern: Ist das Gefühl noch da? Aber es ist verschwunden.

Dieser kurze Ausschnitt beschreibt meine „Rollenerfahrung“ in einer gestalttherapeutischen Familienaufstellung. Ich bin Stellvertreterin für die Schwester der Protagonistin, Yasmin, die kurz nach der Geburt verstarb. Ich wäre die ältere Schwester gewesen, die die Protagonistin selbst nie kennenlernte, die aber für das System eine Bedeutung hatte, wie sich später heraus stellte. Dies schien die Leiterin wohl schon vermutet zu haben, da sie Yasmin mit aufstellen ließ. Mehr Informationen bekomme ich zu der Rolle nicht.

Die Leiterin, Gestalttherapeutin seit über 40 Jahren, weist jedoch zu Beginn des Seminars darauf hin, dass es hier nicht darum geht, „zu schauspielen“. „Wenn ihr Stellvertreter*innen seid, dann nehmt euch Zeit, spürt einfach, was im Körper passiert, was ihr wahrnehmt. Gibt es da einen Bewegungsimpuls? Geht diesen Impulsen nach.“

 

(Februar 2014)