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Wohin denn ich? Das Dilemma von Aufführungsanalysen im Applied Theatre

Als Theaterwissenschaftler steht die Aufführung im Mittelpunkt meines Interesses. Seit Jahrzehnten werden in meinem Fachgebiet Modelle von Inszenierungs- und Aufführungsanalysen entwickelt, die zwar von der Flüchtigkeit des Theaters und der Frage nach einer angemessenen Methode und Herangehensweise, ob nun hermeneutisch, semantisch oder semiotisch, herausgefordert werden, jedoch eines immer voraussetzen können: Der Verfasser der Aufführungsanalyse spielt einen gewollten Part in der Inszenierung, denn für gewöhnlich sitzt er als Zuschauer im Publikum und gehört auf diese Weise zum Werk dazu. Mag dieses noch so sperrig sein oder versucht es gar, sich den gängigen Theaterkonventionen zu entziehen, so entfaltet es stets eine – mal mehr mal weniger überzeugende – Wirkungsästhetik, die von den Zuschauenden rezipiert werden soll und somit auch analysiert werden kann. Obwohl die klassische Rezeptionsanalyse mit ihrem selbstbewusst-subjektiven Gestus in der gegenwärtigen Theaterwissenschaft nicht gerade hoch im Kurs steht, rezente Studien oftmals den Eindruck erwecken, dass das zuschauende „Ich“ zugunsten allgemeingültiger Kategorisierungen und scheinbar objektiver Ästhetikbewertungen in den Hintergrund rückt, so kann doch festgehalten werden, dass das beobachtende, analysierende und bewertende Subjekt in nahezu jeder Inszenierung erwünscht ist.

Im Applied Theatre ist das nicht der Fall, und die Frage „Wohin denn ich?“ stellt sich mir als Theaterwissenschaftler, der dieses Feld erforschen will, zwangsläufig. Denn ein großer Teil der Applied Theatre Projekte findet bewusst ohne Publikum statt, da hier prekäre Themen verhandelt werden, bei denen die Akteure sich zwar gegenseitig beobachten können, jedoch die Rolle eines lediglich beobachtenden Konsumenten nicht vorgesehen ist: Zuschauen darf nur, wer aktiver Teilnehmer ist. Auch in Projekten, die für ein öffentliches Publikum geschaffen werden, ist man nur bedingt ein „ordentlicher“ Rezipient der Inszenierung. Das Adjektiv„applied“ deutet bereits darauf hin, dass die Produktionen auf ein bestimmtes, im Vorfeld präzise definiertes Publikum ausgerichtet sind. Sie unterscheiden sich so grundlegend vom Theater ohne „applied“, das – zumindest theoretisch – jeglicher Person offen steht. Streng genommen bin ich nur dann berechtigt, eine Inszenierung des Applied Theatre zu rezipieren, wenn ich den Parametern des Zielpublikums entspreche oder als aktiver Teilnehmer mitmache. Was aber ist, wenn ich mein Inneres oder Verdrängtes nicht theatral erleben will, keiner marginalisierten Gesellschaftsschicht angehöre oder weiß, wie Verhütung funktioniert, sondern einfach nur zuschauen möchte?

Bei näherem Hinschauen ist dieses Dilemma in der gesamten Forschung zu Applied Theatre sichtbar. Die einschlägige Wissenschaftsliteratur beschreibt selten die Aufführungen an sich, sondern die institutionellen Rahmenbedingungen, die sozialen und gesellschaftlichen Zielsetzungen, die Orte des Geschehens und den gesellschaftlichen Status der Teilnehmenden. Sobald die Theaterpraxis in den Mittelpunkt rückt, wird sie lediglich bestimmten Traditionen wie Boal oder Brecht zugeordnet, selten aber daraufhin untersucht, auf welche künstlerische oder ästhetische Art und Weise sie wirkungsmächtig wird. Oder aber die Verfasser der einschlägigen Wissenschaftsliteratur sind die Praktiker des Applied Theatre selbst, was in anderen Theaterkontexten eher ungewöhnlich ist. Selten veröffentlicht ein_e Regisseur_in eine Analyse seines/ihres eigenen Werks. Ich jedoch, der ich weder Praktiker noch aktiver Teilnehmer des Applied Theatre bin und sein will, sondern ein Wissenschaftler, der forscht, indem er beobachtet, interpretiert und daraus seine Schlussfolgerungen zieht, was soll ich hier, wo soll ich hin? Was kann ich beobachten und wie analysieren?

Diese paradoxe Situation spiegelt sich im Titel des Projektes „The Aesthetics of Applied Theatre“ wider. Denn wie kann die Ästhetik des Applied untersucht werden, wenn das Applied sich den Praktiken der Theaterwissenschaft dermaßen entzieht? Andererseits deutet der Titel auf einen möglichen Weg: Da er ganz unverfroren das Ästhetische des Applied Theatre voraussetzt und in den Vordergrund stellt, suggeriert er, dass es eine Möglichkeit der Analyse mit einem theaterwissenschaftlichen Instrumentarium geben muss. Wenngleich zu erörtern sein wird, ob und welche Art von Ästhetik mit Applied Theatre einhergeht und wie diese analysiert und beschrieben werden kann, schafft der Titel doch einen Ort, an dem ich mein theaterwissenschaftliches „Ich“ ausleben kann: Obwohl ich weder Praktiker bin noch irgendetwas mit dem sozial-gesellschaftlichen Impetus der Projekte zu tun habe, sollte ich diese analysieren können, da sie schließlich den Namen „Theater“ tragen und so per definitionem Sphären schaffen, die ich beobachten kann.

Zweifelsohne muss ich umdenken. Ich sollte mich fragen, warum ich mich für dieses Applied Theatre interessiere. Im meinen Fall zum Beispiel, was ich als deutscher Theaterwissenschaftler im südafrikanischen Schultheater zu suchen habe? Kann ich die kulturellen Kodes entschlüsseln, wenn ich nicht in Südafrika aufgewachsen bin? Gibt es dort nicht genügend Wissenschaftler, die gleiches vermögen? Sollte ich überhaupt über Aufführungen, die in einem geschützten Raum stattfinden, schreiben und diese analysieren? Wieso ist die Kunst des Applied für mich wichtig? All das sind Fragen, die dazu führen könnten, lieber zu Hause zu bleiben und ins Deutsche Theater in Berlin zu gehen und darüber zu schreiben. Doch auf der anderen Seite entdeckt möglicherweise ein Beobachter, der gar nicht in das Projekt gehört, einen anderen Blick hat, Klammern und Schwerpunkte setzt, die jenseits des sozialen, gesellschaftspolitischen oder therapeutischen Impetus liegen, im Applied Theatre Wirkungsebenen und Aspekte, die bisher kaum beachtet wurden und das Instrumentarium der Theaterwissenschaft wie die Aufführungsanalyse fruchtbar erweitern. Doch es wird wichtig sein, mein „Ich“ nicht zu verleugnen. So ist die Frage „Wohin denn ich?“ vielleicht ein erster Schritt.

 

(März 2014)