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„Theater“

Gibt es Theater ohne Öffentlichkeit? Ich denke natürlich an Assessment Center, da dieses „Theater“ unter dem Ausschluss der Öffentlichkeit stattfindet. Leider wird mir als Geisteswissenschaftler nicht der Luxus zuteil, zu sagen, die Frage sei so komplex, dass ich ihr lieber ausweichen würde. Ich stelle jedoch fest, dass ich ihr ausweiche, indem ich Anführungsstriche verwende. Anführungsstriche sind meine besten Freunde im Alltag, sind so hilfreich, dass ich sie fest in meine Standardrhetorik integriert habe und auch in mündlichen Vorträgen durch die entsprechend kulturell geprägte Geste verwende, beide Arme zu heben und sie mit Mittel- und Zeigefinger beider Hände in die Luft zu setzen. Denke ich jetzt darüber nach, ist das fast eine rhetorische Form von Betrug. Ich darf plötzlich einen Vergleich vornehmen, der hinkt, einen Gegenstand einer Kategorie zurechnen, in die er unter Umständen nicht gehört, während meine Stimmmodulation und mein Körper, bzw. die kleinen Striche links und rechts vom Wort meine Aussage relativieren. Sie sagen, ich bin nicht so dumm, wirklich anzunehmen, dass meine Argumentation eindeutig richtig ist, ich wage hier nur einen Vergleich:

Ist Assessment Center Theater ? - Nein, - !

Ist Assessment Center „Theater“ ? - Ja, natürlich -

„Geisteswissenschaftler“.

Ich finde mich in meiner Forschung immer wieder an dem Punkt, rechtfertigen zu müssen, ob denn die erweiterten Personalauswahlverfahren überhaupt Theater seien. Die Kardinalsfrage nach der Kunst kann bereits der Titel meines übergeordneten Forschungsprojekts abschmettern. Das Phänomen Applied Theatre macht deutlich, dass im Theater eine künstlerische Intention in den Hintergrund treten oder auch ganz ausbleiben kann, ohne dass es zum „Theater“ wird. Bei Rollenspielen im Assessment Center aber treten offenbar auch andere Phänomene so weit in den Hintergrund, dass Freunde und Verwandte und eben sogar die Initiatoren von Assessment Centern selbst erstaunt fragen: „Ach, das würden Sie schon als „Theater“ bezeichnen?!?“ Lediglich Fachkolleginnen nicken verständig in ihrem Wissen um Theatralität und Performanztheorie – ein oft sehr einsamer Trost.

Was fehlt dem Assessment Center also außer der Kunst? Es gibt Schauspieler – Laien und professionelle, ausgebildete Seminarschauspieler. Es gibt Spielleiter, eine raumzeitliche Begrenzung des Spiels und durchaus auch Requisiten, seien sie auch wenig phantasievoll und kaum von ästhetischem Interesse. Aufführungen treten in ihrer Bedeutung im Applied Theatre allgemein in den Hintergrund. Auch das unterscheidet das Assessment Center nicht wesentlich von den anderen Formen. Die Aufführung ist lediglich sehr spärlich: Eine Postkorbübung dauert vielleicht fünf Minuten, die Bewerberin hat sich zu Hause und wahrscheinlich ohne ästhetische Einflüsse von Brecht, Stanislawski oder Boal auf ihren Part vorbereitet, sie spielt sich selbst in einem Raum, der einen Seminarraum darstellen soll, und außerhalb der Spielsituation tatsächlich ein Seminarraum ist, und das Publikum fällt in eins mit den Spielleitern und den restlichen Bewerberinnen.

Zwei Erklärungen bleiben mir also, weswegen das Rollenspiel des Assessment Centers nicht so ohne Weiteres als Theater angesehen wird. Entweder es hat lediglich von Allem zu wenig – zu wenig Kunstanteil, zu wenig Publikum, zu wenig Schauspiel, Fiktionalisierung, Narration, Inszenierung, Aufführung, Requisite, gestalteten Raum oder aber – und für diese Beobachtung muss ich meiner Kollegin Dr. Natascha Siouzouli danken – es liegt daran, dass das Assessment Center keine Öffentlichkeit hat.

Problem gebannt?

Nein, in die Tiefe gegangen und festgestellt, dass das Problem sich rhyzomatisch verästelt!

„Geisteswissenschaftler“.

Hat das Assessment Center Zuschauer? Ja, auf jeden Fall. Die Inszenierung einer Spielszene etwa aus der Alltagsrealität einer ausgeschriebenen Stelle findet statt, damit Human Resources Manager die Performanz einer potentiellen neuen Arbeitskraft auf dieser Stelle bewerten können. Daher sind sie anwesende Zuschauer und Initiatoren zugleich. Zudem kann ein externer ABO-Psychologe oder ein Seminarschauspieler, der ausgebildet wurde, Feedback zu geben, das Schauspiel zu beobachten. Nicht zuletzt gibt es das sogenannte Peer-Ranking und -Rating, in dem eine Gruppe von Bewerberinnen sich selbst beobachtet und jede einzelne Feedback zur eigenen Leistung, wie auch zur Leistung der Mitbewerberinnen geben muss.

Sind Zuschauer aber automatisch Publikum?

Publikum, vom lateinischen „publicus“ – dem Volk, dem Staat gehörig – oder auch „publicum“ – Gemeinwesen, öffentlicher Platz – ist ein konstituierendes Element des Theaters gedacht als „Ereignis“. Es hat nach Willmar Sauter[1] verschiedene Dimensionen: Zunächst einmal eine wirtschaftliche, durch Einnahmen, die die Theateraufführung finanzieren (im deutschen Modell müsste man wohl davon sprechen, dass sie die Finanzierung legitimieren). Weiterhin konstituiert das Publikum ein soziales Ereignis. In seinen Ausführungen über die historische Dimension des Publikums erläutert Sauter weiterhin, dass der Ausschluss bestimmter Gesellschaftsgruppen aus dem Theater durchaus in verschiedenen Epochen und unterschiedlichen Ausformungen des Theaters der Fall war: Frauen, Sklaven, ethnische Minderheiten, etc. Die Exklusion von Teilen der Gesellschaft aus einem Publikum stellt nicht den Publikumsbegriff in Frage. Aus dem Gemeinwesen können von jeher Menschen exkludiert werden. Dieser Umstand problematisiert nicht den Terminus „Publikum“, sondern lediglich die Annahme eines demokratischen Essentialismus des Theaters.

Somit wäre das Publikum des Assessment Centers lediglich ein sehr elitärer Club, in dem die meisten nichts zu suchen haben und dem man nicht unbedingt angehören möchte. Ist es also wieder nur das „Zu Wenige“, das den Begriff Publikum hier mit einem schalen Beigeschmack versieht?

Ist Publikum nun aber gleichbedeutend mit Öffentlichkeit?

Nein, zwei Gründe vorweg: Gäbe es keine Nuancen, müsste die Sprache nicht differenzieren, gäbe es keine Differenzen, würde ich keine rhetorische Frage stellen.

Komplizierter wird der Fall, weicht man auf andere Sprachen aus. Ist dem Publikum im Englischen das Wort „audience“ zugeordnet, übersetzt man „Öffentlichkeit“ mit „public“, was die angloamerikanische Öffentlichkeit doch wiederum an das Publikum rückbindet.

Dennoch ist die „Öffentlichkeit“ weiter gefasst als das Publikum. Aus dem Mittelhochdeutschen „offenlich“ als „unverhohlen“ und „allen wahrnehmbar“ entlehnt, erscheint der Begriff im Deutschen wesentlich später als etwa das Theater an sich.[2] Der Terminus „Öffentlichkeit“ entsteht gegen Ende des 17. Jahrhunderts als Schlagwort liberal-bürgerlicher Politikströmungen.[3] „Öffentlichkeit“ suggeriert durch seinen Singular eine gesellschaftliche Allgemeingültigkeit, die sich bei einer Überprüfung im einzelnen dennoch immer als politisches Phantasma erweist, was in der Wissenschaft zur Problematisierung und Differenzierung in verschiedene Öffentlichkeitsbegriffe geführt hat.

Recherchiere ich über „Theater ohne Öffentlichkeit“, so finde ich lediglich Aussagen von Theaterschaffenden und Kritikern, dass ein solches Theater keinen Sinn mache.

Auch ich kann und will den Öffentlichkeitsbegriff für das Spiel des Assessment Centers nicht retten. Das Personalauswahlverfahren ist nicht öffentlich, es ist ja sogar so abgeschottet, dass ich selbst exkludiert bin. Die Frage ist lediglich, ab wann ist das Publikum des Theaters ein so exklusives, dass die Rede von Öffentlichkeit nicht mehr gelten kann? Und weiter, gäbe es Beispiele für Theater ohne Öffentlichkeit, würde dies bedeuten, dass Öffentlichkeit kein konstituierendes Element des Theaters ist und somit kein Ausschlusskriterium für ein Assessment Center als Theater?

Ist es immer noch eine Öffentlichkeit, wenn Afroamerikaner in den USA der 1920er Jahre vom Theaterbesuch ausgeschlossen werden? Konstituiert sich Öffentlichkeit beim Häftlingstheater im KZ Dachau oder wenn in Nordkorea nur die politische Elite Zugang zu einer Inszenierung hat? Die Drastik solcher Zwangssysteme hilft mir traurigerweise so oft bei Gegenbeispielen. Es sei allerdings gesagt, dass ich mir bewusst bin, dass die Ausgrenzung dieser Systeme etwas völlig anderes ist als der pragmatische Ausschluss aus einem nicht öffentlichen Prozess. Dennoch – sind dies nun Beispiele für Theater ohne Öffentlichkeit, oder sind dies vielmehr ethisch korrumpierte „Öffentlichkeiten“?

Gehört eine nicht öffentliche Probe zum Theater? Ja und nein. Es kommt auf den Theaterbegriff an – zum Theater als dem transitorischen „Ereignis“ in Kopräsenz wohl nicht. Dennoch ist die Probe, die den Zuschauer exkludiert, Teil des Theaters. Und gerade im Applied Theatre sind die um das Ereignis der Aufführung gelagerten Prozesse von anderer Bedeutung als im Kunsttheater. Letztendlich gelange ich wieder und wieder zu der Frage, was denn Theater sei. Eine Frage, so leidig, wie die Frage: „Was ist Kunst?“

Ich fürchte, fürs erste verbleibe ich beim „Theater“ … oder vielleicht Thaeter.

„Geisteswissenschaftler“.

 

[1] Willmar Sauter: „Publikum“, in Fischer-Lichte, Kolesch, Warstat (Hrsg.): Theatertheorie, Metzler, Stuttgart, Weimar 2005.

[2] Stefan Hulfeld: „Öffentlichkeit“, in Fischer-Lichte, Kolesch, Warstat (Hrsg.): Theatertheorie, Metzler, Stuttgart, Weimar 2005.

[3] Ebd.

 

(Mai 2014)