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Vom Gegenstand an sich und ob er bei mir richtig aufgehoben sei

Als dasjenige Mitglied des Projekts The Aesthetics of Applied Theatre, das zuletzt zu dem Team hinzugestoßen ist, bin ich wahrscheinlich mehr noch als meine Kollegen in einer Phase des Auslotens und Abwägens meines Forschungsgegenstandes. In einer Kolloquiumssitzung Anfang März bestätigte mir Dr. Joy Kristin Kalu durch die Beobachtung, dass das Corporate Theatre sich mehr noch als andere Formen des Applied Theatre bestehenden Theorien einer Ästhetik des Theaters entziehe, meinen Eindruck, dass mein Gegenstand sich zumindest als sperrig erweisen wird. Die Herausforderung, das Phänomen Assessment-Center in diesem Forschungskontext zu fokussieren, ist eigentlich eine zweifache, die schon mit den beiden einzigen Substantiven des Titels unseres Projekts beginnt:

Zum Einen bemerke ich, dass der Gegenstand dazu auffordert, sich zu rechtfertigen, weshalb er überhaupt unter ästhetischen Gesichtspunkten betrachtet werden sollte. Zwar kann keine Variante des Applied Theatre dem Kant'schen Diktum des ‚interesselosen Wohlgefallens’ standhalten, das Assessment-Center jedoch scheint noch weiter von Kunst oder auch nur Kunsthandwerk entfernt rein pragmatischen Zwecken zu dienen. Ein Verständnis von Ästhetik, angewandt auf das Assessment-Center, darf sich nicht als Kunsttheorie oder Lehre vom ‚Schönen’ verstehen, sondern muss stärker in Richtung einer Phänomenologie, der Aisthetik, gedacht werden.

Zum Anderen – hier wären wir beim zweiten Substantiv des Projekttitels – stellt man sich bei meinem Gegenstand beinahe intuitiv die Frage nach der Definition von Theater per se. Geht es denn beim Assessment-Center überhaupt um Theater? Eine Frage, auf die ich vorbereitet sein muss, so entnehme ich es jedenfalls Reaktionen von Freunden und Familie, denen ich berichte, womit ich mich als Theaterwissenschaftler in den nächsten drei Jahren beschäftigen werde.

Ich nehme an, niemand wird in Frage stellen, dass das Assessment-Center die Kriterien für den Begriff der Theatralität erfüllt. Andererseits ist damit nicht viel gewonnen, denn welches öffentliche Phänomen der Arbeits- und Medienwelt tut dies nicht? Aber über die Bedingungen von Phänomenen des Alltags, die mit dem Begriff Theatralität zu fassen sind, hinaus, besteht das Assessment-Center doch aus einem dem Theater ureigenen Aspekt: dem Rollenspiel. Ist die Skepsis gegenüber der Vorstellung des Assessment-Centers als Theater also nur eine Variante der Berührungsängste von Theaterwissenschaft und angewandtem Theater an sich, zugespitzt lediglich dadurch, dass diese Form des Rollenspiels am stärksten auf den Zweck hin, am wenigsten auf die Aufführungssituation und wahrscheinlich mit den geringsten theatralen Mitteln durchgeführt wird? Oder ist die Skepsis eine ethische? Muss das Theater als Gegenstand der Ästhetik in der allgemeinen Auffassung ganz klassisch dem ‚Schönen’ und ‚Guten’ dienen? Und ist somit das Rollenspiel des Assessment-Centers als Mittel der Selektion kein ontologischer Nachfolger des griechischen Theaters sondern des römischen Gladiatorenspektakels? Theater unter seinen minimalen Voraussetzungen bedarf einer Person A, welche X präsentiert, während S zuschaut. Daraus kann aber natürlich nicht cum hoc ergo propter hoc der Umkehrschluss hervorgehen, dass überall, wo diese Bedingungen erfüllt sind, auch von Theater gesprochen werden sollte, eine Falle – nicht zuletzt auch ethischer Dimension – die derjenigen nicht unähnlich ist, in die Karl Heinz Stockhausen im posttraumatischen Taumel von 9/11 getappt ist.

Ich fühle mich (noch) nicht bereit, Stellung zu beziehen, wo aus ethischer Perspektive Theater aufhört, weigere mich jedoch anzunehmen, dass an dieser Stelle dann ‚Ernst’ oder ‚Realität’ beginnen sollte.

Was ich im Assessment-Center vorfinde, sind Rolle und Spiel. Und diese Symptome scheinen ausreichend, um zu postulieren, dass der Patient beim richtigen Arzt in Behandlung ist.

 

(September 2013)