Springe direkt zu Inhalt

Serious Games II – Zuckrige Schlachten in Katalonien

Ein Gespräch zwischen Kristin Flade und Florian Evers

Kristin Flade

Florian, als wir kürzlich zusammen in Vilanova beim Karneval gewesen sind, haben wir uns sehr unterschiedlich involviert verhalten. Das für mich als vornehmlich zusehende und fotografierende Besucherin Spannendste war, Sarah und dich so vollkommen integriert in eine sehr aufwendige Tradition zu sehen, und durchaus erfreut zu beobachten, wie viel Spaß euch das sichtlich gemacht hat. Ich sehe deinen Hut vor mir, den riesengroßen Bonbonsack, Sarahs tolles Blumentuch, und denke, wie schön, dass ihr da drin gewesen seid. Wie war es denn, da so, „drin“? Ich meine, die Leute haben ja doch sehr schnell von „den beiden Deutschen, die dieses Jahr beim Ruderverein dabei sind" gesprochen. Wie war das für dich?

Florian Evers

Gute Frage, da gibt es natürlich ganz verschiedene Aspekte. Zunächst einmal war ich sehr erfreut über die Gastfreundschaft, die Herzlichkeit und auch das Privileg, als Außenstehender in diese Tradition integriert zu werden. Diese Art der Partizipation an den Karnevalstraditionen in Vilanova ist ja keinesfalls ein normales touristisches Event. Der nächste Aspekt ist, denke ich, die Angst sich lächerlich zu machen. Ich habe in den fünf Tagen viel über die Wahl meiner bisherigen Kostüme nachgedacht (ich bin ein großer Fan der Halloween-Feierlichkeiten) und stelle fest, dass ich in meinen Kostümen niemals selbstironisch gewesen bin. Am Freitagsumzug als Schaf verkleidet in einer Parade an der halben Stadt vorbeizulaufen, war da eine Herausforderung.

K.F.

Fand ich auch. An der Schafssache war ich ja noch beteiligt. Und schnell gemerkt, wie seltsam es war, mich von „meiner Herde“ zu lösen und dennoch erkennbar kostümiert durch die Stadt zu laufen, entlaufen irgendwie. Hattest du das Gefühl, da auch plötzlich sehr politische Statements von dir zu geben, als Gast in dieser Stadt, als Schaf?

F.E.

Ja absolut, zu diesem Punkt komme ich gleich.

Die Angst, sich lächerlich zu machen, hat auch mit den Traditionen, die jeder Mensch dort von Kindesbeinen auf lernt, zu tun. Die Uniform für den Sonntag etwa wirkte auf mich sehr seltsam. Zunächst hatte ich ja nur diesen Hut auf, den ich jetzt gerade auch trage, da er mir beim Erinnern hilft. In Kombination mit meinem Anzug und der Sonnenbrille musste ich an die Smoking Caterpillar aus Alice im Wunderland denken. Mit der kompletten Tracht der katalanischen Bauern wiederum sah ich aus wie ein Jakobiner. In der uniformierten Gruppe verschwand dieses Gefühl von Lächerlichkeit. Man schaut dann links und rechts, was die anderen machen. Es gab einige Herausforderungen, wie das Ritual, sich aus einer Karaffe Wein in den Mund zu gießen, aber das meiste habe ich bestanden. Einmal musste man sich in der Choreographie in eine Männer- und eine Frauengruppe aufteilen. Ich bin intuitiv bei den Frauen geblieben und habe mich etwas wie der Dorftrottel gefühlt – nicht, dass man mir das Gefühl auch vermittelt hätte – alle waren sehr herzlich ...

Zur Politik. Der Karneval in Vilanova hat starke politische Aspekte. Nicht, dass der deutsche Karneval die nicht auch hätte, ich habe aber die Katalanen als politisierter wahrgenommen. Da geht es um das schlechte Verhältnis zu den Spaniern, was vom spanischen Erbfolgekrieg über die Franco-Diktatur bis heute reicht und sich in starken separatistischen Bestrebungen der Region äußert. Und natürlich ist die Eurokrise ein Thema, was meine deutsche Nationalität im Karneval auch nochmal speziell gemacht hat.

K.F.

Verstehe ich, ja. Wenn ich noch mal auf die Frage von eben kommen darf – ist es dann für dich unproblematisch, da „mitzugehen“, und damit die Masse zu vergrößern, die für diese oder jene politische Strömung steht? Ich frage mich das auch in Bezug auf deine und unsere Überlegungen zu den Serious Games. Dort, in Vilanova, wird Lokalpolitik, und wird der Karneval politisch ernstgenommen. Wir als Besucher des Karnevals finden unseren Teil darin und können das erfahren, auch genießen. Ich frage mich allerdings, wie man grundsätzlich die Distanz mitdenkt, die du und ich und jeder andere Gast zum lokalen Geschehen zunächst weiterhin und notwendig haben?

F.E.

Ja, das waren auch meine Überlegungen. Man muss die verschiedenen Veranstaltungen da differenzieren: Der Meringue-Krieg war quasi die Initiation in die „Masse“, so wortwörtlich wie man es nur performen kann. Wir haben uns mit anderen Karnevalsvereinen um Mitternacht auf dem zentralen Platz in Vilanova getroffen und uns mit einer süßen Eischneecreme beworfen, bis wir alle eine ununterscheidbare, irre lachende und weiße Masse waren, aus der meine Selbstdistanz zeitweilig hervortrat und mich fragte: „Was machst du da eigentlich?“ Das Ganze war aber sehr unpolitisch. Anders der Umzug am Freitag. Das war Lokalpolitik. Wir sind als Schafe verkleidet einem Wagen gefolgt, der den örtlichen Baustadtrat verhöhnte (der Mann stand selbst am Straßenrand und wirkte wenig amüsiert). Da habe ich schon diese Gedanken gehabt, weshalb ich hier eine politische Meinung vertrete, die mir in groben Zügen von meiner Gastgeberin umrissen wurde. Allerdings, wäre mir dieses Statement zu heikel gewesen, hätte ich auch abgewinkt. Ich habe mir (zugegeben nicht selbst überprüft) sagen lassen, dass der Mann ein Rassist in Bezug auf die Einwanderungspolitik sei. Das war für mich dann gut genug, allerdings war ich weitestgehend damit beschäftigt, mir immer wieder klar zu machen, dass ich hier gerade in einem sehr lächerlichen Kostüm und mit einem Dosenbier in der Hand an tausenden von Menschen vorbeigehe. So was ist normalerweise Stoff meiner Alpträume und war sicherlich eine gute Lektion in Eigenhumor. Der Bonbonkrieg dann und das Auftreten in dieser klassischen Tracht waren wenig politisch im Sinne aktueller Tagespolitik. Natürlich aber wird hier eine katalonische Kollektividentität performt. Für meinen Teil habe ich es eher als eine Herausforderung an das soziale Geschlecht verstanden. Eine Frau in Vilanova braucht hier einen männlichen Partner, egal welche sexuelle Präferenz sie hat, das kann nicht aufgebrochen werden. Springt dein Partner ab oder findet sich keiner – beides habe ich mitbekommen – ist das eine mittelschwere Tragödie. An verschiedenen Stellen in der Choreographie werden die lokalen Bilder von Männlichkeit und Weiblichkeit performt und damit differenziert. Am besten im Gedächtnis ist mir der Appell an meine Männlichkeit „not to be a chicken“, also kein Feigling im Bonbonkrieg zu sein, bei dem sich hunderte von Teilnehmern auf dem zentralen Marktplatz harte Bonbons an den Kopf werfen. Die Frauen gehen weitestgehend mit dem Rücken zum Geschehen an den Rand des Platzes, spannen ihre Tücher auf und dienen als Schutzschilde – es gibt auch Frauen, die aktiv mitwerfen, aber sagen wir mal, es ist ihnen erlaubt, so zu handeln. Ein Mann dagegen muss sich in die Schlacht werfen. Kurz vor dem Einmarsch ins „Kolosseum“ riet man mir: „Pass auf deine Augen auf!“ Das war ein guter Rat, ich war kein Feigling, habe aber seitdem ein ambivalentes Verhältnis zu harten Bonbons.

K.F.

Was ich sehr berührend fand und worüber ich lange nachgedacht habe, war der Umgang mit den Spuren all dieser zuckrigen Schlachten. Euch und allen anderen durch die Stadt mäandernden Truppen liefen ja mehr oder weniger Horden von Bonbonauflesern und Bonbonzusammenkehrern nach. So, als ob die nächste Welle Zucker gar nicht erst zertreten werden sollte (hat vielleicht nicht wirklich geklappt ...). Ich überlege, was das richtige Adjektiv ist – vielleicht „marthalerisch“ – jedenfalls, die Szenerie im Innenhof des örtlichen Altenpflegeheims: ein Glasumgang, vollgestellt mit auf die Distanz besehen unbewegten alten Menschen in Rollstühlen, die in den Hof blicken, auf dem die Jugend tanzt und jubelt und Bonbons wirft, zu Blasmusik einander bekriegt. Und dann dieser Mann, der permanent – eine Sisyphusarbeit, wie sie im Buche steht – kehrt und kehrt und kehrt ....

Was sind das für Bilder für dich? Wäre es konsequenter, den Zucker nicht wegzumachen? Schichten um Schichten zu zertreten und noch wochenlang danach zu knirschen und zu kleben auf den Wegen?

Vielleicht ist das die Frage nach der Wirkung dieser Karnevalsaktionen? (Treibt uns ja um, als Beobachter angewandten Theaters ...)

F.E.

Naja, rein pragmatisch muss dieser Zucker irgendwann weg, man konnte sich ja in der gesamten Innenstadt nicht mehr bewegen, ohne am Boden festzukleben. Gott verhüte, dass dort jemand betrunken umfällt. Die Wirkung … ich versuche es erst mal aus meiner Perspektive. Die Bonbons sind verdammt schwer (sieben Kilo hatte ich dabei zunächst auf dem Rücken). Das erste, was man denkt, ist: „Hoffentlich habe ich schnell Gelegenheit, das auf ein erträgliches Maß zu reduzieren.“ Es gibt dann bestimmte Verhaltenskodizes. Passanten werden in hohem Bogen beworfen, Kinder werden besonders vorsichtig beworfen, ganz kleinen Kindern gibt man die Süßigkeiten auch schon mal in die Hand. Ich (und auch andere) hatten durchaus Spaß daran, zu versuchen, ein paar der Bonbons zu den Rentnern zu schmeißen, die von höheren Balkons zuschauten und die sich (das ist natürlich meine Projektion) fast melancholisch freuten, dass Leute davon ausgingen, dass nicht nur die kleinen Kinder, sondern auch sie wahrgenommen werden wollten und vielleicht Freude an einer Süßigkeit haben könnten. Trifft man auf einen anderen Karnevalsverein, so wirft man aggressiver, versucht durchaus auch, jemandem mit dem Bonbongeschoss leicht weh zu tun – ein Vorgeschmack des großen Bonbonkrieges am Ende des Umzugs. Ich hatte selbst einige blaue Flecken. Besonders im Gedächtnis ist mir ein Mann in meiner Gruppe, etwa Ende vierzig Anfang fünfzig, der einen jüngeren Mann ausgemacht hatte, der sich mit dem Rücken zu uns nach Bonbons bückte. Mit diebischer Freude, kindlichem Sadismus geradezu, zielte er so hart wie möglich auf das Gesäß des Mannes. Ich muss schmunzeln, wenn ich an die Szene denke. Was es im Großen bedeutet, ist wohl eine Variante von Opferfest. Karneval ist traditionell und länderübergreifend ein Zelebrieren des Überschusses. Man hat mir gesagt, dass er in Vilanova gerade jetzt in der Wirtschafts- und Finanzkrise umso heftiger gefeiert wird.

K.F.

Sieben Kilo und blaue Flecke ... keine schlechte, eine durchaus rasante Schulung in lokaler Identität, Florian. Ich erinnere mich, wie du im Auto auf dem Weg zum Flughafen über Sitges geschimpft hast, eine acht Kilometer entfernte Küstenstadt, eine ganz andere Welt, und selbstredend eine Vilanova „verfeindete“ ...

F.E.

When in Rome do as the Romans do ... Da war durchaus Ironie im Spiel ...

K.F.

Ja ja. Lässt sich jetzt leicht behaupten. Aber, sag – wenn wir uns mit Serious Games beschäftigen, verstehst du auch solche Erfahrungen als ernstes Spiel?

F.E.

Absolut. Je länger man sich mit Spielen beschäftigt, desto schwerer fällt es, irgendwo eine These von Konsequenzlosigkeit aufrecht zu erhalten. Der Karneval in Vilanova als politische Plattform, gesellschaftliches Ventil, aber auch als Selbstbestätigung regionaler Identität, Geschlechterrollen, Gemeinschaft etc. ist auf jeden Fall unter dem Aspekt des ernsten Spiels zu betrachten. Das deckt sich auch mit meiner persönlichen Erfahrung. Ich glaube, ich habe lange nicht mehr so sehr über mein Verhalten und mein Auftreten in Gruppen reflektiert wie in diesen fünf Tagen Karneval, von dem ja in der Theorie immer von Umkehr der Regeln, Entfesselung und Anarchie die Rede ist.

K.F.

Und meinst du, dass gerade das dort Fremdsein dir diese Erfahrung überhaupt erst möglich gemacht hat, du sie dir „gestattet“ hast? Ich kann mir nur schwer vorstellen, wie du als Schaf in Berlin hinter einem dröhnenden Wagen mit Dosenbier in der Hand herumspringst ... Ist es dieses Karnevalssetting – aber vielleicht eben auch jede andere spielerische Situation? – ist diese Enthebung aus dem Alltag für dich etwas, was die Reflektion befördert?

F.E.

Ja, gerade von Außen in diese doch recht privilegierte Stellung als Teilnehmender innerhalb eines solchen Karnevalsvereins aufgenommen zu werden, ermöglicht eine Perspektive, die mir erlaubt, die Dinge zum Teil in ihrer Absurdität beschreiben zu können, ohne ihren tradierten Hintergrund zu kennen. Das verstellt zum Teil natürlich eine korrekte Einordnung, hat mir aber auch die Möglichkeit zur Reflektion der Wirkung und reinen Performanz gegeben. Und, ja, dass mich in Vilanova niemand kannte. Ich gehe nicht davon aus, dass ich mein Schafskostüm zu irgendeiner Gelegenheit in Berlin anlegen werde.

 

(März 2014)